Ich bleibe auf dem Domplatz stehen und sehe mir gut die Marmorfassade an. Ich zähle die Säulen oberhalb der Arkaden, es sind dreißig und alle unterschiedlich. Ich gehe dann näher aber immer noch nicht hinein, ich bewundere auch mit den Fingern die kühle Marmorreliefs. Tausende und Tausende von Fingern sollen das schon vor mir berührt haben in den letzten über 900 Jahren!
An dem rechten Pilaster vor dem Portal ist ein Labyrinth, das für die mittelalterlichen Menschen den Sinn des Leben dargestellt hatte: den richtigen Weg zu Gott zu finden, wobei man aber ganz schnell die Orientierung verlieren kann. In der Mitte der Fassade sehe ich den Heiligen Martin, er gibt gerade seinen Mantel dem Bettler. Seine Marmorfigur ist fast durchsichtig und glänzt in der Sonnenschein. Bevor ich durch das Portal hineingehe, schaue ich mir gründlich auch die zwölf Reliefs links und rechts vom Eingang, die die zwölf Monaten und dadurch den jährlichen Zyklus von dem Bauernleben darstellen. Ich sehne manchmal auch nach so einem Rhythmus!
Das Innere ist von einer mysteriösen, frommen Atmosphäre und „duftet nach heiligem Wasser“. Oft sieht man noch Reste von den ältesten Teilen der Kirche, mit verblichenen Wandmalereien. Die fantastische Kassettendecke aus Holz gibt eine feierliche Ladung dem Haus Gottes. Was mich aber am meisten beeindruckt, sind zwei Sachen. Die eine ist das hölzerne Kruzifix, mit dem Volto Sacro, dem Heiligen Antlitz, was laut der Legende unter geheimnisvollen Umständen entstand und kam in Lucca an. Die zweite ist ein Sarkophag von Jacopo della Quercia, das Grabmal der Ilaria del Carretto. Sie war die Frau des Stadtherren Paolo Guinigi und starb mit 26 Jahren am Anfang des 15. Jhs. Also ihr Zuhause war der Turm mit den Steineichen (wahrscheinlich noch ohne Steineichen), wo ich gestern gewesen bin und vielleicht auch sie beobachtete ihre Stadt von dem selben Blickwinkel!
Mir kommt die Gänsehaut bei dieser Gedanke. Ich werfe 50 Cent ins Kisten und zünde für uns beide eine Kerze an. Ich bleibe noch eine Weile sitzen, dann mit langsamen Schritten mache ich noch eine Runde in der Kathedrale, bevor ich zum Auto gehe, noch immer unter der Wirkung des Domes.